5. Türchen
DER WEIHNACHTSMANN
Eine Geschichte von Renate Minaie
Es war ein Tag vor Heiligabend und bitterkalt. Es wehte ein schneidender Wind, und die Menschen froren entsetzlich. Auf den Scheiben unseres zugigen Fensters hatten sich Eisblumen in phantasievollen Formen gebildet. Die Kraft unseres kleinen gekachelten Ofens reichte nicht aus, sie zum Schmelzen zu bringen. Ich presste mich an ihn, meine Mutter legte das letzte Stück Holz nach, um noch möglichst viel Wärme zu speichern. Es würde nicht lange dauern, und eisige Kälte würde in unser einfaches, karg eingerichtetes Zimmer kriechen. Meine Mutter würde mich dann wieder ins Bett stecken, was sie immer tat, wenn wir kein Brennholz hatten. Mich störte es nicht. Ich dachte nur an das bevorstehende Weihnachtsfest. Je näher es rückte, umso aufgeregter wurde ich.
Es war das erste Weihnachten nach Kriegsende, und der Weihnachtsmann sollte kommen. Ich kannte ihn gar nicht. Er war noch nie bei mir gewesen, aber es wurde viel von ihm erzählt. Auf meine Fragen, weshalb der Weihnachtsmann die Kinder so lange nicht besucht hatte, antwortete meine Mutter: "Viele Menschen sind während des Krieges ausgebombt oder geflüchtet. Er hätte gar nicht gewusst, wohin er welche Geschenke hätte bringen sollen." Mir leuchtete das ein.
Auf den Oblaten meiner Freundinnen trug er einen roten Mantel, schwarze Stiefel und hatte einen langen weißen Bart. Neben ihm stand ein prallgefüllter Sack, aus dem einige Spielsachen guckten. Ich hatte ein Gedicht gelernt, und jeden Tag sagte ich es meiner Mutter auf Ich wollte es dem Weihnachtsmann fließend vortragen können. Aber Herzklopfen hatte ich doch. Ob ich wohl die Puppe bekommen würde, die ich mir wünschte? Meine Mutter meinte, dass es nach dem Krieg auch für den Weihnachtsmann sehr schwierig wäre, alle Wünsche erfüllen zu können. Für mich war aber die Hauptsache, dass er kam.
Vielleicht brachte er auch meinen Vater mit? Mein Vater war noch in Gefangenschaft. Ich erinnerte mich nicht an ihn, aber durch die Erzählungen meiner Mutter war er mir sehr vertraut. Es wäre schön, wenn er zurückkäme. Meine Mutter zog sich an. Sie wollte versuchen, ob sie noch irgendwo Brennholz auftreiben konnte. Ich träumte weiter von Weihnachten.
Das Weihnachtsfest wollten wir bei meinen Großeltern verbringen. Ich war gerne bei ihnen. Sie erzählten mir immer Geschichten. Großvater begann, hörte in der Mitte seiner Geschichte, wo sie am spannendsten war, auf, und Großmutter beendete sie auf ihre Weise. Oft war es auch sehr lustig, weil sie ganz anders endeten, als Großvater es sich gedacht hatte.
Es klingelte. Weshalb schellte Mutter an der Wohnungstür? Sie hatte doch den Schlüssel? Wahrscheinlich war sie so mit Holz bepackt. Ich huschte zur Tür. Mir stockte das Herz. Vor mir stand ein Mann in einem schäbigen Mantel. Er trug einen Rucksack, und seine schwarzen Schnürstiefel sahen genauso abgetragen aus wie sein Mantel. Meine Angst wich, als ich in seine Augen schaute, die mich gütig und liebevoll ansahen.
Das ist der Weihnachtsmann, schoss es mir durch den Kopf. Er ähnelte überhaupt nicht dem auf den Oblaten meiner Freundinnen, aber nach dem Krieg ging es eben auch dem Weihnachtsmann nicht so gut. Ganz verwirrt stammelte ich: "Lieber Weihnachtsmann, ich habe dich erst morgen erwartet, aber sicher hast du so viel zu tun, dass du es an einem Tag nicht schaffen kannst." Ich knickste und begann mit meinem Gedicht.
Während ich es ihm vortrug, bemerkte ich, dass sich seine Augen mit Tränen füllten. Bestimmt freute er sich, weil er so lange nicht bei uns Kindern war. Ich hatte mein Gedicht gerade beendet, als ich Schritte die Treppe heraufkommen hörte. Es war meine Mutter. Der Weihnachtsmann hatte auch sie durch sein vorzeitiges Kommen so überrascht, dass sie fassungslos auf dem letzten Treppenabsatz stehen blieb. Der Weihnachtsmann drehte sich um. Meine Mutter stieß einen gellenden Schrei aus und ließ alles Holz fallen. Beide flogen aufeinander zu und lagen sich in den Armen.
"0 Rolf, liebster Rolf, o Rolf ... "‚ hörte ich meine Mutter sagen. Jetzt begriff ich erst, dass dieser Weihnachtsmann mein Vater war. Heiligabend kam dann noch der richtige Weihnachtsmann. Es wurde mein bisher schönstes Weihnachtsfest.
Eine Geschichte von Renate Minaie
Es war ein Tag vor Heiligabend und bitterkalt. Es wehte ein schneidender Wind, und die Menschen froren entsetzlich. Auf den Scheiben unseres zugigen Fensters hatten sich Eisblumen in phantasievollen Formen gebildet. Die Kraft unseres kleinen gekachelten Ofens reichte nicht aus, sie zum Schmelzen zu bringen. Ich presste mich an ihn, meine Mutter legte das letzte Stück Holz nach, um noch möglichst viel Wärme zu speichern. Es würde nicht lange dauern, und eisige Kälte würde in unser einfaches, karg eingerichtetes Zimmer kriechen. Meine Mutter würde mich dann wieder ins Bett stecken, was sie immer tat, wenn wir kein Brennholz hatten. Mich störte es nicht. Ich dachte nur an das bevorstehende Weihnachtsfest. Je näher es rückte, umso aufgeregter wurde ich.
Es war das erste Weihnachten nach Kriegsende, und der Weihnachtsmann sollte kommen. Ich kannte ihn gar nicht. Er war noch nie bei mir gewesen, aber es wurde viel von ihm erzählt. Auf meine Fragen, weshalb der Weihnachtsmann die Kinder so lange nicht besucht hatte, antwortete meine Mutter: "Viele Menschen sind während des Krieges ausgebombt oder geflüchtet. Er hätte gar nicht gewusst, wohin er welche Geschenke hätte bringen sollen." Mir leuchtete das ein.
Auf den Oblaten meiner Freundinnen trug er einen roten Mantel, schwarze Stiefel und hatte einen langen weißen Bart. Neben ihm stand ein prallgefüllter Sack, aus dem einige Spielsachen guckten. Ich hatte ein Gedicht gelernt, und jeden Tag sagte ich es meiner Mutter auf Ich wollte es dem Weihnachtsmann fließend vortragen können. Aber Herzklopfen hatte ich doch. Ob ich wohl die Puppe bekommen würde, die ich mir wünschte? Meine Mutter meinte, dass es nach dem Krieg auch für den Weihnachtsmann sehr schwierig wäre, alle Wünsche erfüllen zu können. Für mich war aber die Hauptsache, dass er kam.
Vielleicht brachte er auch meinen Vater mit? Mein Vater war noch in Gefangenschaft. Ich erinnerte mich nicht an ihn, aber durch die Erzählungen meiner Mutter war er mir sehr vertraut. Es wäre schön, wenn er zurückkäme. Meine Mutter zog sich an. Sie wollte versuchen, ob sie noch irgendwo Brennholz auftreiben konnte. Ich träumte weiter von Weihnachten.
Das Weihnachtsfest wollten wir bei meinen Großeltern verbringen. Ich war gerne bei ihnen. Sie erzählten mir immer Geschichten. Großvater begann, hörte in der Mitte seiner Geschichte, wo sie am spannendsten war, auf, und Großmutter beendete sie auf ihre Weise. Oft war es auch sehr lustig, weil sie ganz anders endeten, als Großvater es sich gedacht hatte.
Es klingelte. Weshalb schellte Mutter an der Wohnungstür? Sie hatte doch den Schlüssel? Wahrscheinlich war sie so mit Holz bepackt. Ich huschte zur Tür. Mir stockte das Herz. Vor mir stand ein Mann in einem schäbigen Mantel. Er trug einen Rucksack, und seine schwarzen Schnürstiefel sahen genauso abgetragen aus wie sein Mantel. Meine Angst wich, als ich in seine Augen schaute, die mich gütig und liebevoll ansahen.
Das ist der Weihnachtsmann, schoss es mir durch den Kopf. Er ähnelte überhaupt nicht dem auf den Oblaten meiner Freundinnen, aber nach dem Krieg ging es eben auch dem Weihnachtsmann nicht so gut. Ganz verwirrt stammelte ich: "Lieber Weihnachtsmann, ich habe dich erst morgen erwartet, aber sicher hast du so viel zu tun, dass du es an einem Tag nicht schaffen kannst." Ich knickste und begann mit meinem Gedicht.
Während ich es ihm vortrug, bemerkte ich, dass sich seine Augen mit Tränen füllten. Bestimmt freute er sich, weil er so lange nicht bei uns Kindern war. Ich hatte mein Gedicht gerade beendet, als ich Schritte die Treppe heraufkommen hörte. Es war meine Mutter. Der Weihnachtsmann hatte auch sie durch sein vorzeitiges Kommen so überrascht, dass sie fassungslos auf dem letzten Treppenabsatz stehen blieb. Der Weihnachtsmann drehte sich um. Meine Mutter stieß einen gellenden Schrei aus und ließ alles Holz fallen. Beide flogen aufeinander zu und lagen sich in den Armen.
"0 Rolf, liebster Rolf, o Rolf ... "‚ hörte ich meine Mutter sagen. Jetzt begriff ich erst, dass dieser Weihnachtsmann mein Vater war. Heiligabend kam dann noch der richtige Weihnachtsmann. Es wurde mein bisher schönstes Weihnachtsfest.
Beitrag verfasst von:Blitzi - Rubrik:
Weihnachten 2009
Trackback URL:
https://bueroklammer.twoday.net/stories/6075308/modTrackback